[1] Zum ersten Mal öffnete die Elbphilharmonie ihre Tore nicht nur für ein Konzert mit Videospielmusik, sondern auch für das Experiment eines Live-Let’s Plays. Auf dem Programm stand die Musik von Dorian Behner, John Broomhall und Will Morton zu Lost Ember (2019) des Hamburger Entwicklerstudios mooneye studios sowie die Musik von Austin Wintory zu Journey (2012) der thatgamecompany aus Los Angeles. Gespielt wurde die Musik vom ensemble reflektor unter der Leitung von Jochen Neuffer. Der Konzertsaal war gut gefüllt, konnte aber nicht vollständig ausgelastet werden, da alle Zuschauer und Zuschauerinnen einen Blick auf die große Leinwand werfen sollten. Auf dieser Leinwand wurden die Spielszenen projiziert, die der Streamer Staiy auf einem PC im Saal spielte. Die Moderation übernahm Charlotte Oelschlegel, die auch während der Spielszenen gemeinsam mit Staiy die einzelnen Handlungsabschnitte erklärte. Auch die Kommentare des Twitch Live-Chats wurden mit eingebunden. Die Spiele wurden vollständig ohne Sound gezeigt, Dialoge oder Texteinblendungen wurden von Staiy und Oelschlegel vorgelesen. Die Geräusche, wie Schritte im Gras oder Schnee sowie das Flattern eines Flügelschlags wurden von der Geräuschemacherin Simone Nowicki ebenso unmittelbar zum Spielgeschehen erzeugt.
[2] Nach einer kurzen Ouvertüre, die eine Zusammenstellung der Motive aus Lost Ember war, traten die genannten Akteure und Akteurinnen auf. Nach einer kurzen Vorstellung und der Erklärung des Konzepts begann das Let’s Play von Lost Ember und die Besonderheit des Konzerts zeigte sich. Durch die Interaktion zwischen Dirigent, Orchester, Geräuschemacherin und Spieler, die durch mehrere Kontrollbildschirme auf der Bühne möglich war, konnte man bei der Entstehung dynamischer Videospielmusik dabei sein. Die Prozesse, die bei einem Spiel im Hintergrund ablaufen, konnten hier live miterlebt werden. Erreichte Staiy einen bestimmten Punkt im Spiel, gab der Dirigent mit Handzeichen an, dass die Musiker und Musikerinnen zum nächsten Teil oder zu einer Schlussgruppe nach dem Ende einer Nummer wechseln sollten. Hierbei wurde bei beiden Spielen mit visuellen Cues des Gameplays gearbeitet, die bei Lost Ember deutlich voneinander unterscheidbar waren. Das Orchester folgte dem Soundtrack, weshalb die Stücke im Folgenden mit den Titeln der einzelnen Tracks benannt werden. Nachdem Staiy und Oelschlegel als Wolf die erste Etappe der Höhle erreichten, kamen sie zu einem Skelett, in dem ein Amulett versteckt war. Hierbei erklang passend das Stück „A great gift“, welches vollständig gespielt wurde. Das nächste Stück aus dem Soundtrack „Humming Birds“ begann erst mit dem Auftritt der Wombats. Innerhalb dieses Abschnitts erklingt im Spiel eigentlich keine Musik, weshalb man wahrscheinlich auf ein späteres Stück im Soundtrack, dem Thema des Kolibris, vorgriff. Vorteil dieses Stücks ist, dass es im Soundtrack mit einem Fade-Out endet und somit unabhängig von den Spielaktionen Staiys geloopt werden konnte, bis in eine Schlussgruppe gewechselt wurde. Mit dem Verlassen der Wombathöhle als nächstem visuellen Cue, erklang „Light & Dark“ aus dem Soundtrack, das für das Konzert als eine Art „Overworld-Theme“ genutzt wurde, da das Orchester nach einer Cutscene ein weiteres Mal zu diesem Stück zurückkehrte.
[3] Aufgrund der Eindeutigkeit der visuellen Cues konnte der Dirigent das Orchester gut mit seinen Handzeichen (eine geballte Faust) durch das Spiel leiten. Auch die Abänderung der Instrumentation von „Hummingbird“ fiel kaum auf. Werden die Harmonien im Original von einer Gitarre gespielt, wurden diese im Arrangement im Konzert auf die Streicher übertragen. Auch die musikalische Untermalung der Wombats durch ein nicht vorgesehenes Motiv störte das Spielgeschehen nicht. Im Gegenteil, beide Aspekte verstärkten die Immersion und hoben die Besonderheit der Musik deutlich hervor. Denn erst durch die nahezu durchgängige Begleitung des gesamten Orchesters konnte die Dynamik der Videospielmusik herausgestellt werden.
[4] Nach einem kurzen Fazit über Lost Ember folgte der nächste Teil des Konzerts mit dem Spiel Journey. Dieser begann mit einer kurzen Zusammenfassung der Handlung des Spiels, das als eine Art Hörspiel vorgetragen wurde. Währenddessen wurde sie von Nowicki und vom Orchester mit der vollständigen Wiedergabe des ersten Stücks des Soundtracks „Nascence“ begleitet. Das folgende Let’s Play setzte am Ende des Spiels ein, orientierte sich aber zunächst weniger an den Titeln des offiziellen Soundtracks, da, anders als im Soundtrack zu Beginn der Sequenz nicht „The Crossing“ zu hören war. Dirigent und Orchester mussten bei Journey dynamischer auf die Aktionen Staiys reagieren, da die gespielte Sequenz am Ende des Spiels, mit einer Ausnahme, nicht durch Cutscenes unterbrochen wurde. Dies zeigte sich im Besonderen nach dem Erreichen der ersten Etappe, bei der sich die Spielfigur in einem von Wind und Wetter geschützten Raum kurz ausruhen kann. Hierbei erklingt im Spiel passend der Titel „Reclamation“, der auch im Konzert zu hören war. Sobald Staiy und Oelschlegel aber das sichere Terrain verließen, wurde die Musik wieder um einiges bedrohlicher. Eingeleitet durch einen Paukenschlag erklang der nachfolgende Titel des Soundtracks „Nadir“. Aber auch die Bedrohung währte nicht ewig, denn ein weiterer, sicherer Raum bot der Spielfigur schon bald wieder Schutz. Die Musik befand sich also in einem dynamischen Wechsel zwischen „Reclamation“ und „Nadir“, der allerdings so subtil eingesetzt wurde, dass die beiden Stücke nicht redundant wirkten. Dem letzten Wechsel zu „Nadir“ folgte eine Schlussgruppe, da das Ende des Pfades erreicht war. Die Musik verklang langsam, bis die Spielfigur im Schnee zusammenbrach. Mit Beginn der Cutscene folgte „Apotheosis“; das wohl populärste Stück aus dem Soundtrack. Da der Ablauf der letzten Sequenz nicht vollständig planbar ist, war auch die entsprechende Reaktionvom Orchester gefordert. Diese waren auditiv weniger wahrnehmbar, da das Orchester nicht zwischen Stücken, sondern immer zu Teilen innerhalb eines Stücks wechselte. Beendet wurde das Konzert mit der vollständigen Wiedergabe des letzten Stücks aus dem Soundtrack „I was born for this“. Die literarischen Ausschnitte aus der Aeneis, Beowulf, der Ilias sowie die Zitate von u.a. Matsuō Basho, die als Textgrundlage dienen, sind an dieser Stelle nicht von einer einzelnen Sängerin, sondern von Musikern und Musikerinnen aus dem Orchester gesungen worden.
[5] Durch die gute Zusammenarbeit aller Akteure und Akteurinnen konnte die Immersion des Spiels trotz der ungewohnten Kulisse eines renommierten Konzertsaals aufrechterhalten und sogar verstärkt werden. Gerade die Übergänge innerhalb oder zwischen den Stücken gelangen fließend, ohne mechanisch oder maschinell zu sein. Auch die Änderungen der Kompositionen passten hervorragend in das Spiel, so dass sie als Stücke des originalen Soundtracks wirkten. Als Zuschauer oder Zuschauerin bekam man daher das Beste aus zwei Welten: Ein nahezu privat kommentiertes Spielerlebnis in Kombination einer live-Darbietung in einem der besten Konzertsäle der Welt.
[6] Auch diejenigen, die nicht vor Ort im Konzertsaal dabei sein konnten, hatten die Möglichkeit daran teilzuhaben. Denn das Konzert wurde zeitgleich auf Staiys Twitch-Kanal Live gestreamt und ermöglichte es so tausenden Besucher:innen außerhalb des Konzertsaals ebenfalls zuzuhören und zuzuschauen. Bereits vor Konzertbeginn war die Stimmung im Live-Chat voller Vorfreude und die Spannung der Zuschauer:innen spürbar. Sowohl zahlreiche Fans von Staiy, wie auch viele Konzertinteressierte wohnten dem virtuellen Konzert bei, sodass zu Beginn des Abends bereits fast 15.000 und zum Höhepunkt 17.600 Zuschauer zuhörten.
[7] Der Live-Stream wurde über mehrere Kameras direkt aus dem Konzertsaal der Elbphilharmonie übertragen und ermöglichte es den Zuschauern den Musikern und Musikerinnen und auch Staiy ganz genau auf die Finger zu schauen. Aber es sind natürlich nicht nur die visuellen Aspekte, welche in einem Konzert im Vordergrund stehen. Die Tonqualität der Übertragung war fast durchweg herausragend und ermöglichte ein reibungsloses und angenehmes Erlebnis. Die kleinen technischen Probleme gegen Ende des Konzerts wurden zudem so schnell behoben, dass sie kaum auffielen und das Hörerlebnis nur kurz unterbrachen.
[8] Die Begeisterung der Online-Zuschauer:innen hielt das gesamte Konzert über an. Aussagen wie „Eine wirklich coole Aktion! Finde ich richtig schön, dass Staiy hier mitwirken kann. Und schön, dass ‘Gaming’ auch einen Platz in der Elbphilharmonie bekommt!“ oder „Das ist einfach unglaublich schön, ich hab seit dem ersten Ton Gänsehaut und es hört gar nicht mehr auf“ waren keine Seltenheit. Einigen Zuhörer:innen gefiel das Konzert so gut, dass sie den Live-Stream nutzten, um es nach den Vorstellungen am Montag und Dienstag ein zweites Mal erleben zu können. Da die technische Ausstattung der Elbphilharmonie hier in allen Aspekten ein sehr gelungenes Pendant zum persönlichen Erlebnis schaffen konnte, hat sich dieser zweite Besuch in jedem Fall gelohnt. Durch die angenehme Atmosphäre dank der Moderierenden vor Ort, sowie der Begeisterung der Zuschauer im Live-Chat darf das Konzert wohl in jeder Hinsicht als gelungen bezeichnet werden.
[9] Wie Staiy selbst zu Beginn des Konzerts sagte: man kann versuchen, das Konzept zu erklären. Richtig verstehen wird man es allerdings erst, wenn man es miterlebt. Glücklicherweise ist das ganze Konzert nicht nur gestreamt worden, sondern auch als VOD bei YouTube abrufbar (https://www.youtube.com/watch?v=o_5bJh0D8xc). Eventuell kann man aufgrund der positiven Resonanz, die sich nicht nur im Saal zeigte, auf weitere Konzerte dieser Form hoffen. In Zukunft auch gerne als fest etablierter Teil des Konzertrepertoires und nicht mehr nur in Form eines Experiments.